Es ist seit vielen Wochen, wenn nicht gar Monaten, klar, dass mit steigendem Impffortschritt und vor allem der weitgehenden Durchimpfung der vulnerablen Gruppen, die Inzidenz als alleiniger Maßstab für die Pandemiepolitik ausgedient hat. Fachleute sind sich einig und sogar aus der Politik wird dies so kommuniziert. Niemand kann mir vermitteln, dass es in dieser langen Zeit nicht möglich gewesen sein soll, wenigstens aus den drei Indikatoren Impfstatus, Inzidenz und Krankenhauseinweisungen eine neue Kennzahl zu ermitteln, die das Pandemiegeschehen reell neu abbildet. Es gibt nur einen logischen Schluss: die Abkehr von der Inzidenz war von Anfang an - v.a. im Kanzleramt - nicht gewollt, alle diesbezüglichen Äußerungen reine Nebelkerzen. Markus Söders Antwort, diese Frage wäre zu "kniffelig", grenzt an eine dreiste Lüge und kann schon als Verhöhnung der Öffentlichkeit bezeichnet werden. Die deutsche Krankenhausgesellschaft z.B. hat erst kürzlich einen konkreten Vorschlag zur Berechnung eines neuen Wertes vorgelegt, der sich an 12 Indikatoren orientiert, aber wie immer werden Experten von außerhalb der Berliner Blase nicht gehört. Oder können die Herrschaften den komplexen Überlegungen einer anerkannten Fachgesellschaft einfach nicht folgen?
Aber da wir gerade bei "Blase" sind: die (Noch-) Kanzlerin hat in einer erschreckenden Weise offenbart, dass sie sich offensichtlich in einer solchen bewegt und sich dadurch - man muss es so hart sagen - für das kluge Regieren in einer ernsthaften Krise als vollkommen ungeeignet erweist. Stur hält sie an der vor 18 Monaten eingeschlagenen Linie fest, baut sich ihre eigenen Zahlen zurecht und lässt den vielfältigen und interdiziplinären Kanon der Expertenwelt außerhalb des RKI nicht an sich heran. Der Blick auf die Erfahrungen und Entwicklungen in anderen Ländern wird konsequent verweigert. Das ist nicht nur schädlich für das Land. Das ist erbärmlich! Ihre nach wie vor geradezu grotesk hohen Beliebtheitswerte können nur noch mit einem bequemen, bräsigen, an Politik nicht interessierten Teil der Gesellschaft erklärt werden, der eben seine Ruhe haben möchte. Auch das ist erbärmlich!
Die Konferenz vom 10.08.2021, von der viele Menschen wegen der veränderten Lage eine konkrete und positive Perspektive für die Zukunft erwarteten, diente offenbar nur dem einen Zweck, den Druck auf Ungeimpfte drastisch zu erhöhen. Man arbeitet wieder mit dem Schüren von Angst, Repressionen und düsteren Prognosen. Die Möglichkeit, Menschen durch positive Ansprache, Anreize und zielgerichtete Kommunikation verstärkt zum Impfen zu bewegen, ist einfach zu mühsam und fordert zu viel kreative Denkarbeit. Da sind die "Daumenschrauben" doch viel effektiver. Die Diskussion über eine "Impfpflicht durch die Hintertür" ist obsolet. Sie ist längst real und spaltet die Gesellschaft in erschreckender Weise. Übrigens: ob es nun Regierung und Geimpften passt oder nicht - jeder Bürger dieses Landes hat das verfassungsmäßige Recht, sich gegen eine Impfung zu entscheiden. Das ist zu respektieren! Ändern kann man das nur durch Überzeugungsarbeit.
Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" soll nun also verlängert werden, damit dieser irrationale Kurs (womöglich endlos) fortgesetzt werden kann. Das muss allerdings der Bundestag im September entscheiden und ich ersuche hiermit alle Abgeordneten des deutschen Bundestages, dies NICHT zu tun. Bitte geben Sie diesmal dem Druck aus Ihren Fraktionen nicht nach, ignorieren Sie die Drohung mit Konsequenzen und entscheiden Sie so, wie unsere Verfassung Sie allein verpflichtet: nach Ihrem Gewissen!